Gleichzeitig ist dadurch aber auch sehr deutlich geworden, was für ein Murks webbasierte Foren sind (...) Ich kenne noch Newsgroups (de.rec.fahrrad). Auch da war nicht alles perfekt, aber es war dezentral und hing nicht an einer Einzelperson.
Sehe ich nicht (mehr) so. Ich habe auch mit Mailboxen und später Usenet angefangen und speziell das Usenet sehr geschätzt und ihm lange hinterhergetrauert. Das Usenet hat gut funktioniert, solange es mehr oder weniger eine akademische Nerdveranstaltung war. Es gab eine gemeinsame Kultur, ziemlich homogen, und die war vergleichsweite rational orientiert: Wer mehr weiss hat recht. Höflichkeit ist optional. Humor von der allerdeftigsten Sorte. Das ist bedingt massenkompatibel - zumal "Recht haben" manchmal auch schlicht "lauter sein" bedeutete. Da gab es Ideologie, quasireligiöse Glaubenssätze und falsche Propheten noch und nöcher in manchen Ecken. Speziell mit 25 Jahren Abstand rückwirkend betrachtet. Und ein Sozialverhalten, gegen das jede Schulhofschlägerei eine Einhornparty ist. Und eine gewissen positive Naivität vom Internet als freundlichem Ort - ich sag nur "Klarnamenpflicht".
Sobald AOL den Zugang in's Usenet aufgemacht hatte ging es abwärts mit dem Niveau, die ständigen Diskussionen über Outlook Express brauchte echt niemand, gegen Spam und Trolle war man weitgehend wehrlos, wenn es nicht coole Admins und Abuse-Desks gab - beides hat heute Seltensheitswert.
Die Nutzbarkeit wurde bei mir irgendwann in den 90ern durch den Umstieg vom Terminal auf den Usenetclient
MacSoup von Stefan Haller drastisch geboostet - ein Usenetclient mit grafischem Threading und Subthreading, der damals schon mehr bot, als heute Foren bieten (und bieten können featurehalber).
Als die ersten Foren aufkamen sank schon nach kurzer Zeit das Niveau vieler Foren in's Bodenlose. Warum? Geringe Zugangshürden, keine gemeinsame Kultur, wenig Kommunikationskompetenz. Als Resultat gelten Foren in der Regel nicht als verlässliche Informationsquelle, völlig zu Recht. Da versuchen sich die Bromptonauten abzuheben, mit Erfolg, aber das ist weder einfach noch arbeitsarm noch konfliktfrei. Aber einen Vorteil haben Foren neben dem einfachen Zugang unbestritten: Bilder, Dokument und Verlinkung. Klar gab es Binary Usegroups, aber das ist noch nicht mal ähnlich.
Wenn die 90er das Jahrzehnt des Usenets waren waren die 2000er das der Foren - ein's aufzumachen war einfach, über's Durchhalten haben sich nur wenige Gedanken gemacht. Usermanagement, technische Tücken und später auch Abmahnungen und andere juristische Fallstricke sind die eine Seite, die soziale Seite und die persönlcihe Motivation sind die andere. Viele Foren wurden als Hobby gegründet und betrieben - der Spass kostet aber Geld und vor allem viel, viel (Frei)Zeit. Meist die einer Einzelperson, denn professionell betrieben wurden nur wenige Foren. Einige haben versucht einen Erwerb draus zu machen (und manche tun das immer noch). Reich wird man damit wohl eher nicht, aber dem Forencharakter tut es selten gut. Anderen ist die Angelegenheit über den Kopf gewachsen, ihre verfügbare Zeit und ihre Interessenlage hat sich geändert. So ging es auch Rainer: Er hatte die alten Bromptonautenseiten 2002 als Übungsprojekt für sich selbst gebaut und, weil es ging und damals bleeding edge war, halt wenig später ein Forum drangeflanscht. Dass das so zählebig sein würde hätte er sich nicht träumen lassen. Und natürlich hatte er, wie viele andere, keinen Gedanken an ein Betreiberkonzept, an Redundanz, Resilienz, Softwareupdates oder die Möglichkeit, dass er irgendwann die Lust verlieren könnte oder schicht krank werden könnte verschwendet. So wie viele andere auch.
Die 2010er sind das Jahrzehnt von SocialMedia. Facebook, Twitter, Instagram, TikTok, Youtube etc.. Das hat viele Foren die User gekostet und wenig später die Existenz. Das Niveau sank noch weiter Richtung Kellergeschoss und Inszenierung ist wesentlich wichtiger als Information. Die DSGVO hat dann den verbleibenden Foren den Hals umgedreht - angesichts der Anforderungen und der juristischen Unwägbarkeiten auch kostenhalber haben sehr viele zugemacht. Als "billigen Ersatz" bietet sich Reddit an, die moderne Währung sind Likes und Interaktionen - die meisten Leute haben absolut keine Vorstellung davon, wie social Media wirklich funktioniert. Wer einen Netflix Zugang hat dem sei allerschärfstens die Dokumentation
"The Social Dilemma" von 2020 an's Herz gelegt. Extrem gut aufbereitet und ein echter Augenöffner. Leider eine Netflix Eigenproduktion und ausserhalb glaube ich nicht zu bekommen:
The Social Dilemma - Wikipedia
Was die Verlässlichkeit der Plattformen angeht sehen wir bei Twitter und seit kurzem auch bei Reddit wie trügerisch die schöne Glitzerwelt der cloudbasierten social-Plattformen ist und wie schnell der Lack ab ist, wenn der Turbokapitalismus seine hässliche Fratze zeigt.
Das Niveau ist sowieso eher unterirdisch - im Reddit Brompton Bereich kommt auf ein interessantes Informationshäppchen ein riesiger Haufen nutzloser und desinformierender Bullshit, sinnvoll suchen oder Themen verfolgen kann man sowieso nicht und das ist Absicht und Teil des Geschäftsmodells.
In den 2020er Jahren ist ein Webforum also eigentlich ein Dinosaurier. Ein nichtkommerzielles, das Wert auf inhaltliche Qualität legt, erst recht. Man merkt es allein an der Softwareauswahl: Wir haben mit XenForo eine kommerzielle Software gewählt, nicht ohne Grund. Es ist mit die beste, wenn nicht die beste Forensoftware auf dem Markt - da tun sich wirklich Abgründe auf, wenn man da mal mit einem halbwegs professionellen Blick auf das Angebot an Kanditaten schaut. Und doch ist auch XenForo diplomatisch gesagt ein ziemlicher Dinosaurier von diskussionswürdiger technischer, architektonischer und konzeptioneller Qualität - heute würde man sowas anders schreiben. Aber nun, es funktioniert, ziemlich gut sogar, der Anbieter muss von irgendwas leben und um die Lücken und Macken muss man eben aussenrumarbeiten und damit klar kommen. Wie gesagt: Foren sind eigentlich längst tot:
Lange texte, begrenzt handytauglich, ein gewisser intellektureller und moralischer Anspruch statt Aufmerksamkeitsökonomie und manipulatives Triggern des Belohnungssystems des menschlichen Hirns. Und das auch noch ehrenamtlich auf der Betreiberseite, allen juristischen Tücken zum Trotz. Das geht nur, wenn man es wirklich will. Wir sind jetzt gut 470 User und ich merke in den letzten Wochen, dass die zeitliche Arbeitsbelastung durch das Forum, die eh schon alles andere als gering war, in letzter Zeit noch mal drastisch zugenommen hat. Das ist keine böse Absicht von irgendwem, aber natürlich machen mehr User auch mehr Arbeit und viele Neulinge haben absolut keine Ahnung von Forenkultur und der Funktionsweise von Foren im Allgemeinen und schon gar nicht von der dieses Forums im Besonderen. Da die Balance, die Containance und den richtigen Tonfall zu wahren ist nicht einfach und mißlingt mir zunehmend häufiger.
Die Frage ist: Wo geht es hin? Hier im Forum stellt sich die Frage der Skalierung - bei der aktuellen Wachstumsrate kommen jeden Monat 40-70 User dazu, die Arbeit wird also nicht weniger werden. Und eigentlich ist das ja auch sehr schön. Allerdings: Ich mache das hier, weil es mir Spass macht. Dass es manchmal keinen Spass macht gehört dazu. Falls aber irgendwann die nicht-Spass-Momente zu zahlreich würden würde es blöd. Denn ein erheblicher Anteil der Arbeit dient dazu, die inhaltliche Qualität hochzuhalten. Sehr viel mehr User könnten also durchaus den Charakter des Forums deutlich verändern, da braucht man sich nichts vormachen. Ein Problem, das ich im Auge habe und das wir lösen müssen, wenn es relevant wird.
Ein anderes großes Thema ist (bzw. wird noch) AI. Sachen wie ChatGPT sind im Moment auf dem Hypecycle, aber reifegradmässig noch auf dem Level vollständiger Albernheit. Es ist aber eine Frage der Zeit, bis sich das ändert und das kann (neben vielen anderen Auswirkungen) auch eine Bedrohung für Foren werden. Die Modelle sind ja nicht wirklich intelligent sondern darauf trainiert, intelligent zu wirken. D.h. sie verkünden Stand heute höchst eloquent fachlich vollständigen Bullshit, der sich aber glaubwürdig anhört. Die Inhalte dafür kommen aus allen möglichen Quellen, auch aus dem Web. Es wäre also klug, unsere Kapital, das kollektive Wissen, vor der parasitären Ausbeutung durch KIs zu schützen. Im Moment geht das schlicht durch Aussperren - wenn Inhalte nur in eingeloggtem Zustand zu sehen sind ist die KI ausgesperrt. Suchmaschinen allerdings auch und damit ist wiederum die Auffindbarkeit des Forums eingeschränkt. Ein Balanceakt. Ursprünglich wollte ich die Wissensdatenbank hinter eine solche Accountwall legen (bzw. hatte das auch). Im Zuge besseren Suchmaschinenrankings habe ich das geändert. Überlege aber, neue Inhalte in der Wissensdatenbank evtl. nur noch anzureissen mit basischen Informationen und die volle Ladung dann in die Ressourcen zu packen, wo man nur mit Account hinkommt. Was wiederum Auswirkungen auf die Usability des Forums hätte.
Was das Problem des single Point of Failure bei Foren angeht haben wir uns da ja reichlich Gedanken gemacht und im Rahmen unserer Möglichkeiten eine recht gute und robuste Lösung. Die Resilienz des Usenet ist aber eine ganz andere Nummer. In dieser Hinsicht ist das Fediverse und ähnliche Ansätze recht spannend. Noch weit weg von allein einem konzeptionellen Ansatz für uns, geschweige denn einem praktischen, aber die Zeit wird's zeigen.
Ihr seht: Mir ist nicht langweilig und hinter den Kulissen passiert sehr viel mehr konzeptionell wie arbeitstechnisch, als man als reiner Nutzer der Forenoberfläche wahrnimmt. Noch macht es Spass.
